Internationale Zuständigkeit – welches Gericht darf Ihren Fall entscheiden?


Bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten ist die erste (und oft entscheidende) Frage nicht, wer recht hat, sondern welches Gericht überhaupt entscheiden darf. Wird vor einem unzuständigen Gericht geklagt, drohen Zeitverlust, unnötige Kosten und im ungünstigsten Fall eine Verjährungsfalle. Gerade im Raum Deutschland/Schweiz ist die Zuständigkeitsprüfung häufig das eigentliche „Nadelöhr“ der gesamten Durchsetzung. Rechtlich wird zwischen internationaler Zuständigkeit (darf ein deutsches bzw. schweizerisches Gericht überhaupt entscheiden?) und örtlicher Zuständigkeit (welches konkrete Gericht innerhalb des Staates?) unterschieden. In bestimmten Konstellationen regeln europäische Zuständigkeitsnormen sogar beide Ebenen gleichzeitig, wie der EuGH ausdrücklich bestätigt hat (EuGH, Urt. v. 29. Juli 2024 – C-774/22).


1. Welche Regelwerke gelten?

Welche Zuständigkeitsregeln anzuwenden sind, hängt maßgeblich davon ab, welche Staaten beteiligt sind und ob es sich um eine Zivil- und Handelssache handelt.

EU-Bezug: 

Innerhalb der Europäischen Union gilt vorrangig die Brüssel-Ia-Verordnung oder auch EuGVVO (VO (EU) Nr. 1215/2012). Sie enthält ein in sich geschlossenes System aus allgemeinen, besonderen, schützenden und ausschließlichen Gerichtsständen sowie Regeln zur Gerichtsstandsvereinbarung und zur „rügelosen Einlassung“.

Deutschland–Schweiz: 

Im Verhältnis Deutschland/Schweiz ist regelmäßig das Lugano-Übereinkommen 2007 (LugÜ II) maßgeblich. Inhaltlich ähnelt es stark dem klassischen europäischen Zuständigkeitsregime, hat aber eigenständige Voraussetzungen und Praxisfallen.


Kein EU-/LugÜ-Anwendungsfall: 

Dann richtet sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte grundsätzlich nach nationalem Recht (insbesondere ZPO-Gerichtsstände), ergänzt durch ggf. einschlägige Staatsverträge.

2. Grundprinzip: Klage am Wohnsitz/Sitz des Beklagten

Der „Normalfall“ ist in fast allen Systemen gleich: Geklagt wird am Wohnsitz/Sitz des Beklagten. Dieses Leitbild prägt sowohl das nationale deutsche Recht (allgemeiner Gerichtsstand) als auch die europäischen und luganischen Regelwerke. Im deutschen Prozessrecht ist der Gedanke im allgemeinen Gerichtsstand verankert: Das Gericht am allgemeinen Gerichtsstand ist für alle Klagen zuständig, soweit kein ausschließlicher Gerichtsstand greift (§ 12 ZPO). In der Praxis ist diese Grundregel häufig nur der Ausgangspunkt, weil besondere Gerichtsstände – etwa am Erfüllungsort oder am Deliktsort – taktisch sinnvoller und beweisnäher sein können.


3. Besondere Gerichtsstände: Vertrag, Delikt, Beweisnähe
3.1 Vertragliche Ansprüche: Erfüllungsort / Leistungsort

Bei Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis kann im deutschen Recht am Erfüllungsort geklagt werden. Das ist praktisch relevant bei Kauf-, Werk-, Dienst- oder Dauerschuldverhältnissen, weil sich der Erfüllungsort je nach Leistungspflicht unterscheiden kann (Zahlung, Lieferung, Abnahme, Herausgabe). Im grenzüberschreitenden Kontext dient der Erfüllungsort häufig dazu, den Prozess dort zu führen, wo Leistung tatsächlich erbracht werden sollte und Beweismittel typischerweise vorhanden sind.

3.2 Deliktische Ansprüche: Handlungsort und Erfolgsort
Bei Ansprüchen aus unerlaubter Handlung knüpft das deutsche Recht an den Ort an, „in dessen Bezirk die Handlung begangen ist“. Im europäischen System (Brüssel Ia) und in luganischen Fällen wird der Deliktsgerichtsstand traditionell über den Ort des schädigenden Ereignisses (Handlungs- und Erfolgsort) verstanden. Der EuGH betont hierzu fortlaufend die Leitidee der Nähe zum Streitgegenstand und der leichteren Beweisaufnahme. Für die Praxis besonders wichtig ist, dass der EuGH den „Ort, an dem der Schaden eingetreten ist“ in komplexen Kettenkonstellationen (mehrere Staaten: Hersteller – Verkäufer – Übergabe – Nutzung) konkretisiert. In der Entscheidung C-81/23 hat der EuGH den Schadenserfolgsort bei einer Konstellation mit mehreren Mitgliedstaaten an der Stelle verortet, an der das Fahrzeug tatsächlich übergeben und normal genutzt wird. Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie stark die Zuständigkeit von Detailtatsachen abhängt. (EuGH, Urt. v. 22. Februar 2024 – C-81/23). Im Verhältnis Deutschland/Schweiz ist der Deliktsgerichtsstand nach LugÜ II ebenfalls hochrelevant. Der BGH hat zuletzt zur Reichweite des Erfolgsorts nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ II Stellung genommen und dabei die Beweisnähe als Kernargument hervorgehoben (BGH, Beschl. v. 17. Dezember 2024 – VIII ZR 213/23).


4. Schutzgerichtsstände: Verbraucher, Arbeitnehmer, Versicherte

Ein zentrales Praxisfeld sind Schutzvorschriften zugunsten der strukturell schwächeren Partei. Hier gelten häufig zwingende Zuständigkeitsregeln, die durch Gerichtsstandsvereinbarungen nur sehr eingeschränkt oder gar nicht abbedungen werden dürfen.

4.1 Verbrauchersachen

Der EuGH hat in C-774/22 (Reiserecht/Pauschalreise) klargestellt, dass Art. 18 Brüssel Ia nicht nur die internationale, sondern zugleich die örtliche Zuständigkeit innerhalb des Mitgliedstaats des Verbraucherwohnsitzes festlegt, selbst wenn beide Parteien im selben Mitgliedstaat ansässig sind und „nur“ das Reiseziel im Drittstaat liegt (EuGH, Urt. v. 29. Juli 2024 – C-774/22). Für die Praxis bedeutet das: Der „Auslandsbezug“ kann bereits durch die Auslandsleistung entstehen, und der Verbraucher kann dann sehr gezielt am Wohnsitz klagen.


4.2 Schweizer Bezug und Verbrauchergerichtsstand

Im LugÜ-Rahmen sind Verbraucherregeln ebenfalls zentral. Der EuGH hat im Zusammenhang mit dem LugÜ II zur Verbraucherzuständigkeit entschieden, dass die Zuständigkeitsmechanik im Detail stark von der Qualifikation als Verbraucher und den tatsächlichen Umständen abhängt (EuGH, Urt. v. 10. Juni 2021 – C-296/20, Commerzbank).

4.3 Arbeitnehmer- und Versicherungssachen

Auch Arbeits- und Versicherungssachen werden durch zwingende Zuständigkeitsregeln geprägt. Zudem ist für diese Bereiche wichtig, dass formale Fehler (z. B. falsche Rügezeitpunkte) unmittelbar zur Begründung einer Zuständigkeit führen können, obwohl sie materiell eigentlich nicht gewollt war.


5. Ausschließliche Zuständigkeiten: Nicht „wegvereinbar“

Ein weiterer Kernpunkt sind ausschließliche Zuständigkeiten. In diesen Bereichen ist ein bestimmtes Gerichtssystem zwingend zuständig; andere Gerichtsstände treten zurück. Das spielt etwa bei bestimmten register- oder gesellschaftsrechtlichen Kernfragen, dinglichen Rechten an Immobilien oder Vollstreckungsfragen eine Rolle. In solchen Fällen sind Gerichtsstandsvereinbarungen unwirksam, wenn sie von ausschließlichen Zuständigkeiten abweichen. Die Brüssel-Ia-Verordnung enthält hierzu klare Grenzen.


6. Gerichtsstandsvereinbarungen: Gestaltungsmacht mit strengen Grenzen

Im EU-Kontext ist Art. 25 Brüssel Ia das zentrale Instrument. Dort ist insbesondere wichtig, dass die Vereinbarung formwirksam geschlossen wird (schriftlich bzw. in anerkannten Handelsbräuchen) und dass sie die Schutzbereiche (Verbraucher/Arbeitnehmer/Versicherte) sowie ausschließliche Zuständigkeiten respektiert. Für viele Unternehmen (auch im Beratungs-, Dienstleistungs- und Finanzbereich) sind asymmetrische Gerichtsstandsklauseln relevant, bei denen eine Partei stärker gebunden wird als die andere. Der EuGH hat hierzu in C-537/23 (Società Italiana Lastre) am 27. Februar 2025 Leitlinien formuliert: Eine solche Klausel kann wirksam sein, wenn sie (erstens) Gerichte eines oder mehrerer EU-/LugÜ-Staaten bezeichnet, (zweitens) objektive, hinreichend präzise Kriterien enthält, anhand derer das angerufene Gericht seine Zuständigkeit prüfen kann, und (drittens) nicht in den Schutzbereichen (Verbraucher/Arbeitsrecht/Versicherung) und nicht gegen ausschließliche Zuständigkeiten verstößt. (EuGH, Urt. v. 27. Februar 2025 – C-537/23).

Gerade diese „Präzisionsanforderung“ ist in der Vertragsgestaltung ein häufiger Fehlerpunkt: Klauseln, die der begünstigten Partei praktisch ein unbegrenztes Wahlrecht „bei jedem zuständigen Gericht weltweit“ geben, sind zuständigkeitsrechtlich hochriskant, weil das angerufene Gericht seine Zuständigkeit dann nicht zuverlässig anhand objektiver Kriterien bestimmen kann.


7. Rügelose Einlassung: Zuständigkeit entsteht durch Prozessverhalten

Zuständigkeit kann nicht nur „vereinbart“, sondern auch durch Verhalten im Prozess begründet werden. Im EU-Recht (Art. 26 Brüssel Ia) gilt Entsprechendes. Besonders praxisnah ist die aktuelle BAG-Entscheidung vom 29. Mai 2024 (2 AZR 313/22): Eine rügelose Einlassung liegt vor, wenn die Zuständigkeitsrüge nicht spätestens im ersten nach nationalem Prozessrecht maßgeblichen Verteidigungsvorbringen erhoben wird; zudem ist die Rüge in der Rechtsmittelinstanz rechtzeitig zu wiederholen. (BAG, Urt. v. 29. Mai 2024 – 2 AZR 313/22). Das ist kein „Formalismus“, sondern ein harter strategischer Faktor: Wer die Zuständigkeit sichern oder angreifen will, muss die Rüge früh und prozessual korrekt platzieren.


8. Parallelverfahren, „Torpedo“-Risiken und Strategie

In internationalen Streitigkeiten drohen häufig Parallelverfahren („race to the courthouse“). Moderne Zuständigkeitsregime reagieren darauf, indem sie für bestimmte Gerichtsstandsvereinbarungen Prioritätsregeln und Koordinationsmechanismen vorsehen, um missbräuchliche Verzögerungstaktiken zu begrenzen. Diese Fragen sind besonders relevant, wenn eine Partei versucht, durch ein „früheres“ Verfahren in einem unpassenden Forum Druck aufzubauen. Die Brüssel-Ia-Verordnung enthält hierzu ausdrücklich Mechanismen zum Schutz von Gerichtsstandsvereinbarungen.

9. Unser Ansatz

Wir prüfen zu Beginn systematisch, welches Regelwerk anwendbar ist (Brüssel Ia, LugÜ II oder nationales Recht), welche Gerichtsstände realistisch eröffnet sind (Wohnsitz/Sitz, Erfüllungsort, Deliktsort, Schutzgerichtsstände), ob ausschließliche Zuständigkeiten entgegenstehen, und ob eine Gerichtsstandsvereinbarung wirksam vereinbart wurde oder angreifbar ist. Dabei denken wir stets mit, was in der Praxis oft entscheidender ist als die reine Zuständigkeit: Wo lässt sich ein Titel später effektiv vollstrecken, und welches Forum bietet die beste Beweis- und Verfahrenslage? Gerade bei grenzüberschreitenden Mandaten im Raum Singen/Schweiz ist diese Vorprüfung der Unterschied zwischen einer zügigen Durchsetzung und einem langwierigen Zuständigkeitsstreit.