Berufung im Strafrecht


Ein Urteil des Amtsgerichts ist für Betroffene häufig nicht das „letzte Wort“. Die Berufung ist das zentrale Rechtsmittel, um amtsgerichtliche Urteile durch die nächsthöhere Instanz – regelmäßig das Landgericht – überprüfen zu lassen und die Sache dort erneut verhandeln zu lassen. Gesetzlich ist die Berufung gegen Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts ausdrücklich vorgesehen.


1. Was die Berufung leistet – und was sie nicht ist

Die Berufung eröffnet im Kern eine zweite Tatsacheninstanz. Das bedeutet, dass der Sachverhalt in der Berufungshauptverhandlung grundsätzlich erneut aufgeklärt werden kann, einschließlich erneuter Zeugenvernehmungen und neuer Beweisanträge. Sie unterscheidet sich damit deutlich von der Revision, die typischerweise nur Rechtsfehler überprüft und keine neue Beweisaufnahme „von vorn“ eröffnet. In der Praxis ist die Berufung besonders dann ein wirksames Instrument, wenn die Beweiswürdigung, die Tatsachenfeststellungen oder die Strafzumessung des Amtsgerichts angreifbar sind, oder wenn neue Tatsachen und Beweismittel strukturiert eingeführt werden müssen.


2. Frist und Form: Warum Geschwindigkeit entscheidend ist

Die Berufung muss innerhalb von einer Woche nach Verkündung des Urteils eingelegt werden; war der Angeklagte bei der Verkündung nicht anwesend, beginnt die Frist grundsätzlich mit Zustellung. Gerade dieser Fristbeginn ist in der Praxis häufig fehleranfällig, etwa bei Fragen, ob eine Verkündung „in Anwesenheit“ im Sinne der Vorschrift vorlag oder ob eine wirksame Vertretung gegeben war. Die obergerichtliche Rechtsprechung befasst sich mit diesen Abgrenzungen fortlaufend, etwa zur Einordnung der Anwesenheit des Verteidigers und zur Bewertung der Verkündungssituation. Wichtig ist außerdem: Durch die rechtzeitige Berufungseinlegung wird die Rechtskraft des Urteils gehemmt, soweit es angefochten ist. Das schafft Zeit, ersetzt aber nicht die Notwendigkeit, die Berufung inhaltlich strategisch sauber vorzubereiten.

3. Berufung „light“: Annahmeberufung bei geringfügigen Entscheidungen

Bei geringfügigen Sanktionen kann die Berufung nur zulässig sein, wenn sie angenommen wird (sogenannte Annahmeberufung). Das betrifft insbesondere bestimmte Verurteilungen zu niedrigen Geldstrafen oder Geldbußen und ist in § 313 StPO geregelt. Gerade hier ist es entscheidend, frühzeitig zu prüfen, ob und wie die Berufung substantiiert begründet und taktisch so aufgestellt wird, dass sie nicht als „offensichtlich unbegründet“ behandelt werden kann.


4. Begründung, Beschränkung und Reichweite der Überprüfung 

Die Berufung kann zwar „gerechtfertigt“, also begründet werden; dies ist innerhalb einer weiteren Woche nach Ablauf der Einlegungsfrist möglich, beziehungsweise nach Zustellung, falls diese noch nicht erfolgt war. In der Praxis ist eine frühe Begründung häufig sinnvoll, weil sie die Weichen für die Beweisaufnahme, die Ladungen und die Terminsvorbereitung stellt. Zugleich kann die Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden. Eine typische Konstellation ist die Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch (also Strafmaß, Bewährung, Nebenfolgen). Das kann vorteilhaft sein, wenn der Schuldspruch im Grundsatz tragfähig ist, aber die Strafzumessung oder Bewährungsentscheidung angreifbar ist.

Allerdings ist eine Beschränkung nicht „immer“ risikolos: Obergerichte beanstanden Beschränkungen insbesondere dann, wenn die amtsgerichtlichen Feststellungen so lückenhaft oder widersprüchlich sind, dass die Schuld- und Strafzumessungsgrundlagen nicht zuverlässig getrennt werden können. Exemplarisch wird dies in der obergerichtlichen Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben, wenn erstinstanzliche Feststellungen eine tragfähige Prüfung des Strafausspruchs nicht erlauben. Die Reichweite der Prüfung hängt zudem daran, in welchem Umfang angefochten wurde. Das Berufungsgericht prüft das Urteil nur, soweit es angefochten ist.

5. Vorbereitung und Durchführung der Berufungshauptverhandlung

Für die Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung gelten zentrale Vorschriften zur Terminsvorbereitung. Besonders praxisrelevant ist, dass der Angeklagte in der Ladung ausdrücklich auf die Folgen des Ausbleibens hinzuweisen ist. Das ist deshalb bedeutsam, weil das Gesetz für das unentschuldigte Ausbleiben in der Berufungsinstanz eine harte Folge vorsieht: Erscheinen weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht und ist das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, muss die Berufung des Angeklagten ohne Sachverhandlung verworfen werden.

Die Rechtsprechung stellt dabei klare Anforderungen daran, wann eine Entschuldigung ausreicht. Hervorzuheben ist, dass eine Erkrankung das Ausbleiben bereits dann entschuldigen kann, wenn dem Angeklagten nach Art und Auswirkungen der Erkrankung Anreise und Teilnahme nicht zumutbar sind; ein formaler Nachweis „vollständiger Verhandlungsunfähigkeit“ ist nicht zwingend erforderlich. Gerade an dieser Stelle entscheidet in der Praxis nicht selten die Qualität der Dokumentation, der unverzüglichen Mitteilung und der glaubhaften Darlegung.


6. Verschlechterungsrisiko und Verschlechterungsverbot

Ein zentrales taktisches Thema ist die Frage, ob sich die Situation in der Berufung verschlechtern kann. Grundsätzlich gilt das Verbot der Verschlechterung: Wenn ausschließlich der Angeklagte (oder zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder ein gesetzlicher Vertreter) Berufung eingelegt hat, darf das Urteil in Art und Höhe der Rechtsfolgen nicht zu seinem Nachteil geändert werden. Das schützt jedoch nicht, wenn auch die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten Berufung eingelegt hat. Dann ist eine Verschärfung – je nach Sachlage – möglich und muss strategisch in die Entscheidung „Berufung ja oder nein“ einbezogen werden.


7. Verfahrensfairness in der Berufung: aktuelle verfassungsgerichtliche Leitlinien

Besonders deutlich hat das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen an ein faires Berufungsverfahren in einem aktuellen Beschluss vom 27. März 2025 herausgearbeitet. Es hat betont, dass das faire Verfahren verletzt sein kann, wenn das Berufungsgericht auf eine staatsanwaltliche Berufung hin ohne persönlichen Eindruck vom Angeklagten zu einer deutlich schwereren Sanktion gelangt, obwohl Strafzumessungs- und Prognoseentscheidungen maßgeblich von der Persönlichkeit abhängen. Für die Praxis bedeutet das: In Konstellationen, in denen in der Berufung eine deutlich einschneidendere Rechtsfolge im Raum steht, sind Anwesenheit, Verteidigungssicherung und prozessuale Vorbereitung nicht „optional“, sondern häufig entscheidend.


8. Alternative zur Berufung: Sprungrevision
In bestimmten Konstellationen kann statt der Berufung eine Revision gegen ein berufungsfähiges Urteil eingelegt werden (Sprungrevision). Ob dies sinnvoll ist, hängt regelmäßig davon ab, ob primär Tatsachenfragen (dann eher Berufung) oder Rechtsfehler (dann eher Revision) im Vordergrund stehen.

Wie wir im Berufungsverfahren vorgehen

Wir prüfen unmittelbar nach dem erstinstanzlichen Urteil, welche Angriffspunkte realistisch sind, welche Beweismittel und Zeugen in der zweiten Instanz zielgerichtet eingesetzt werden sollten und ob eine Beschränkung der Berufung taktisch vorteilhaft oder rechtlich riskant ist. Wir strukturieren die Vorbereitung so, dass Terminladungen, Entschuldigungsfragen, Vertretungsvollmachten und die komplette Verteidigungsarchitektur „aus einem Guss“ sind, weil gerade formale Fehler im Berufungsverfahren existenzielle Folgen haben können.

Als Kanzlei in Singen, in unmittelbarer Grenznähe zur Schweiz, berücksichtigen wir in geeigneten Fällen auch die praktischen Auswirkungen grenzüberschreitender Lebens- und Arbeitsrealitäten, etwa bei Terminwahrnehmung, Reiseplanung, Zustellungen und der Kommunikation mit Mandanten, die nicht dauerhaft in Deutschland wohnen, sowie im Rahmen der Lebenshaltungskosten in der Tagessatzhöhe. 

Wenn Sie ein amtsgerichtliches Urteil erhalten haben oder eine Berufung der Staatsanwaltschaft im Raum steht, sollte die Fristlage sofort geprüft werden, weil die Einlegungsfrist typischerweise nur eine Woche beträgt.